Stéphan Olivas Musik scheint über mehr als fünf Sinne zu verfügen. Als sechsten ortete Alex Dutilh die Sinnlichkeit und als siebten ein intuitives Wissen um die Macht der Zeit: das Zurückhalten vor dem Loslassen, das perfekte Timing.
Oliva kam in Montmorency nahe Paris zur Welt, doch seine Musik atmet den mediterranen Geist des Südens von Frankreich, die Weite des Rhônedeltas, die ständige Bewegung, die zugleich doch am selben Ort stattfindet. Er geht auf verwunschenen Pfaden, seine Musik mag filigran scheinen, doch hat sie auch die Kraft eines ungebändigten Toros. Die Kraft von Olivas Musik drückt sich denn auch oft in der Zurückhaltung aus, im Zurücknehmen - und im Gehenlassen zum passenden Zeitpunkt. Das ist es, das Timing.
Die 29. Folge von gypsy goes jazz stellt diesen Pianisten im Portrait vor. Er spielt solo, in verschiedenen Duos (mit Musikern wie dem US-Drummer Joey Baron oder dem Klarinettisten Jean-Marc Foltz, mit dem Oliva auch Grenzgänge im Bereich der Klassik unternimmt) und in Trios, gelegentlich auch mit grösseren Formationen mit Bläsern (neben Foltz etwa Matthieu Donarier, Laurent Dehors oder Christophe Monniot). Mit dem Pianisten François Raulin nahm Oliva mehrere Alben auf, gewidmet der Musik von Lennie Tristano und dem Harlem Stride Piano. Das sind zwei Einflüsse, neben Tristano ist Bill Evans der Ausgangspunkt, dem kaum ein Jazzpianist der letzten Jahrzehnte ganz entkommen konnte.
Meine erste Begegnung mit Oliva war sein Beitrag zur CD-Reihe oder Box »jazz 'n (e)motion«: fünf Pianisten, unter ihnen Oliva, spielen Stücke aus Filmen (gelegentlich auch eigene Stücke zu imaginären Filmen). Olivas Version von »India Song«, Carlos d'Alessios Thema zum gleichnamigen Film von Marguerite Duras, ist so rätselhaft und zugleich so klar wie der Film selbst. Das Stück gehört für mich auch nach über zehn Jahren noch zu den fesselndsten Hörerfahrungen überhaupt und gibt der Sendung den Titel.