Die letzten Sendungen waren dem Jazz aus Los Angeles gewidmet. Wir bleiben für die zwei kommenden Folgen von gypsy goes jazz in Kalifornien, richten den Blick aber weiter gen Norden, nach San Francisco, das in den Fünfzigern und frühen Sechzigern eine kleine aber lebendige Jazzszene beherbergte.
Die erste Sendung gehört ganz dem Pianisten, Komponisten und Bandleader Dave Brubeck.
Schon lange ist es unter Jazzfans, noch mehr unter Kritikern und auch Musikern, hip, Brubeck in die Pfanne zu hauen. Die Argumente überbieten sich gegenseitig an Absurdität. Ted Gioia bündelt sie in seinem Buch "West Coast Jazz" (S. 66f.):
Frequently cited criticism of Brubeck in the 1950s emphasized the facts - all of them difficult to dispute - that (1) his group earned more money than the Modern Jazz Quartet; (2) his picture was put on the cover of Time magazine; (3) Duke Ellington's picture was not put on the cover of Time magazine; (4) the Brubeck quartet did not sound like Gerry Mulligan's.
Dazu kam der Vorwurf, die Musik würde nicht swingen, nicht so sehr wie jene von früheren Jazz-Gruppen. Was bei solchen absurden Vorwürfen untergeht sind natürlich die Verdienste der Band und ihres Leaders. Brubeck kopierte eben gerade nicht, was Mulligan tat, was Basie oder das Modern Jazz Quartet machten. Seine Musik ist in rhythmischer und struktureller Hinsicht neu und völlig eigenständig. Man mag Gioia folgen, wenn er meint, in der Hinsicht sei Brubeck einem seiner Zeitgenossen nicht unähnlich: Thelonious Monk. Auch bei diesem war die Jazzkritik eher daran interessiert, zu beschreiben, was seine Musik nicht ist. Wie Monk beschritt Brubeck einen Weg abseits des Hauptstromes des Jazzpianos, der von Bud Powell und seinen Nachfolgern ausgeformt wurde. Monk wie Brubeck spielten sperrige Rhythmen und "schräge" Akkorde, beide brachten sie die orchestralen Fähigkeiten ihres Instruments zum Vorschein. Beide waren sie an komplexeren rhythmischen Strukturen interessiert als die meisten ihrer Zeitgenossen. Und beide hoben die perkussive Seite des Klaviers hervor, arbeiteten mit Synkopen, rhythmischen Verschiebungen und Akzentuierugen, Brubeck überdies mit Stücken in ungraden Metren - doch beiden warf man vor, nicht zu swingen. Beide spielten oft Soli, die durchdacht, ausgeklügelt, ja beinahe komponiert wirken. Während Monks Ruhm kontinuierlich wuchs und heute unbestritten ist, widerfuhr Brubeck nichts Vergleichbares. Doch beim Publikum feierte er grosse Erfolge, obgleich er sich nie verbog - weitherum bekannt und ebenso weitherum missverstanden.
In Nordkalifornien gaben bis dahin Dixielandgruppen wie jene von Turk Murphy oder Lu Watters den Ton an. Brubeck suchte sich Lehrer wie Darius Milhaud und war schon bald daran, die wenigen "modernen" Jazzmusiker links zu überholen. Geboren in Concord, Kalifornien, wuchs Brubeck als Sohn einer ausgebildeten Konzertpianistin und eines Ranchers (vermutlich indianischen Ursprunges) im abgelegenen Kaff Ione auf. Seine Mutter brachte ihm das Klavierspiel bei. Mit dem Notenlesen wollte es lange Zeit nicht recht klappen, doch er brachte schon bald eigene Klänge hervor. In der Abgeschiedenheit kriegte Brubeck musikalisch nichts mit, er wollte sein Leben auf der Ranch verbringen, besuchte dann aber doch das College of the Pacific, mit der Absicht, Veterinärnedizin zu studieren. Bald zog es das Landei wieder zur Musik und er wechselte das Studiengebiet, obwohl sein Problem mit dem Notenlesen ihn beinah scheitern liess.
Brubeck führte auf dem Campus bald das Leben eines Bohémiens, lief im Zoot Suit herum, spielte mit seiner Ethnizität, seinen indianischen und polnischen Wurzeln, überhaupt schuf er sich ein Image, das die Andersartigkeit hervorhob. Dave Van Kriedt, ein Mitstudent und späterer Mitmusiker meinte, er hätte den Eindruck gemacht, "like he still lived with the tribe" (Gioia, West Coast Jazz, S. 72). Mit der Jazz-Piano-Tradition war Brubeck vermutlich nicht sehr vertraut, die Familie besass in Ione lange Zeit nicht einmal ein Radio, die Gegend war viel zu abgelegen als dass Bands auf Durchreise Halt gemacht hätten. Alle Einflüsse - sowohl Milhaud, bei dem er nach dem Wechsel ans Mills College lernte, wie auch Ellington, Tatum, Kenton, Nat Cole, Erroll Garner, George Shearing oder Lennie Tristano, die Brubeck später als Vorbilder nannte - hinterliessen nur oberflächliche Spuren im Spiel des jungen Pianisten. Dieser traut auf, wo immer er konnte: bei Lions Club-Treffen, Cowboy-Parties oder Hillbilly-Tanzanlässen - und er kannte unzählige Songs aus diesem Umfeld. Als Sonny Rollins später in Kalifornien sein Album "Way Out West" mit einigen Cowboy-Songs einspielte, meinte Brubeck: "I felt he was invading my territory" (Gioia, West Coast Jazz, S. 73).
Als Soldat nahm Brubeck in Pattons dritter Armee an der Ardennenoffensive teil (sein Name taucht in Studs Terkels "The Good War" auf), kehrte 1946 zurück nach Kalifornien zurück, um seine Studien mit Milhaud fortzusetzen. Es bildete sich eine kleine Gruppe von Jazzmusikern, die das von Milhaud gelernte in ihrer Musik anwenden wollte. Neben Brubeck und Van Kriedt gehörten auch der Trompeter Dick Collins, der Klarinettist Bill Smith, der Gitarrist Jack Weeks und ein gewisser Paul Breitenfeld dazu, der Altsaxophon spielte. So bildete sich das Dave Brubeck Octet, das Ende der Vierzigerjahre für Fantasy erste Aufnahmen machen konnte.
Breitenfeld, später unter dem Namen Paul Desmond bekannt, wurde zu Brubecks wichtigstem Mitmusiker der nächsten zwei Jahrzehnte. In vielerlei Hinsicht war er das Gegenteil von diesem: In San Francisco geboren, in Kalifornien und New York aufgewachsen, ein "city sophisticate" mit wenig Interesse an den akademischen Studien bei Milhaud, vielmehr darauf aus, seinen Retro-Stil am Altsaxophon zu perfektionieren, für den ein Benny Carter viel wichtiger war als Charlie Parker. Brubeck wurde bald zum Familienmenschen, Desmond pflegte sein Jungesellendasein, Brubeck war in der Öffentlichkeit ernsthaft, Desmond stets für einen Scherz, eine sarkastische Einlassungen zu haben. Desmond verbrachte allerdings eine sehr schwierige, traurige Kindheit, war über Jahre von seiner vermutlich schwer kranken Mutter getrennt. Er war, so scheint es, zeitlebens von einer grossen Einsamkeit umgeben.
Das Oktett nahm einige Stücke auf, die in ihrer Verbindung von Jazz und Klassik sehr viel frischer klingen als das meiste, was der spätere "Third Stream" hervorgebracht hat. Van Kriedt, Smith oder Brubeck arrangierten eigene Stücke und Standards. Manche Aufnahme eröffnet verblüffende Parallelen zur etwa zweitgleichen "Birth of the Cool"-Band von Miles Davis - doch Brubecks Experimente blieben ohne Nachhall. Als es sich als schwierig erwies, mit dem Oktett Auftrittsmöglichkeiten zu finden, enstand das Dave Brubeck Trio mit Ron Crotty am Bass und Cal Tjader am Schlagzeug (über ihn mehr in der nächsten Sendung). Doch Brubecks Start blieb holprig und sein künftiger Sideman Paul Desmond erschwerte ihn unnötig, als er ihm zuerst die Band ausspannte (mit anderem Pianisten natürlich) und dann auch noch verhinderte, dass Brubeck einen Gig "erben" konnte, auf den er dringend angewiesen war. Später stellte Desmond dann seinen ehemaligen Bandleader als Sideman an, natürlich mit tieferem Lohn, wählte dann wieder einen anderen Pianisten ... Brubeck hockte derweil mit Frau und zwei Kindern in einem fensterlosen Eisenschuppen und versuchte, über die Runden zu kommen.
Um 1950 begann sich Brubecks Ausblick aufzuhellen. Langsam machte die Kunde über den jungen, talentieren Pianisten die Runde, der in Oakland auftrat, der Stadt, über die Gertrude Stein kalauerte: "there is no there there". Für das kleine Dixieland-Label Coronet führte das Trio noch Ende 1949 eine erste Plattensitzung durch, ab 1950 nahm Brubeck regelmässig für das Label Fantasy Records auf. Es ging nun rasch bergauf, das Trio spielte im Radio und trat bald im renommiertesten Club der Stadt auf, dem Blackhawk.
Bei einem Gig in Hawaii kam es jedoch 1951 zu einem beinah tödlichen Schwimmunfall. Brubeck lag monatelang im Spital, die Prognose lautete, dass er möglicherweise nie mehr würde gehen können, vom Klavierspiel gar nicht zu reden. Doch er erholte sich wider Erwarten rasch. Allerdings musste er das Klavierspiel neu erlernen - und es wurde ihm klar, dass er eine zweite Stimme neben sich auf der Bühne brauchte, um ihm etwas von der Last abzunehmen, die ihn sonst während der Rehabilitation erdrücken würde. Paul Desmond, inzwischen in New York, hatte schon längst vom Erfolg des Trios gehört und unterliess monatelang keinen Versuch, wieder in die Gunst Brubecks zu gelangen. Nach dem Unfall willigte dieser schliesslich ein. Damit war das famose Dave Brubeck Quartet geboren, das bis 1967 mit Desmond und zunächst wechselnden Rhythmusgruppen Bestand haben sollte.
Die Sendung stellt vor allem diese ersten Jahre Brubecks vor - das Oktett, das Trio, die ersten Aufnahmen des Quartetts mit Desmond -, kommt aber nicht ganz darum herum, dem späteren Quartett, das ab Mitte der Fünfzigerjahre beim renommierten Label Columbia Records unter Vertrag stand, etwas Zeit zu widmen. Neben ein paar Hits sind es aber vor allem die frühen Aufnahmen für Fantasy, in den Jahren 1951-1954 entstanden, die so manchen vergessenen Diamanten enthalten. Die Zusammenarbeit mit Desmond erklomm manchmal unvorstellbare Höhen, mutete nahezu telepathisch an. Solche Momente sind in der insgesamt gewiss feiner abgestimmteren späten Besetzung - mit Eugene Wright (der die Band zur "integrierten" machte und zugleich der erste Nicht-Kalifornier an Bord war) und Joe Morello - nicht mehr so oft zu finden wie in den ersten Jahren der Existenz des Quartetts.