Die Spontanität gehört seit seiner Entstehung zum Jazz. Und die Jam Session ist der Inbegriff dieser Spontanität: Gleichgesinnte Musiker treffen aufeinander und spielen - für sich selbst, für andere zuhörende Musiker oder auch vor Publikum - wonach ihnen der Sinn steht. Ein paar Absprachen zur Tonart, zum Ablauf einer Nummer - und los geht's. Wenigstens bis in die Fünfzigerjahre sprachen mehr oder weniger alle Jazzmusiker im Wesentlichen dieselbe Sprache. Stücke wie "Honeysuckle Rose" oder "How High the Moon", "All the Things You Are" oder "I Got Rhythm" und unzählige selbst komponierte Linien, die auf den Akkorden, den changes dieser Standards beruhten, wurden zu beliebten Vehikeln in Jam Sessions. Und natürlich auch der Blues.
Die Bezeichnung "Jam Session" tauchte erstmals in den Zwanzigerjahren auf. Den Jazzmusikern genügte es nicht mehr, in grossen Bands und Orchestern oft steife Arrangements zu spielen, die wenig Freiraum liessen. So traf man sich unter Gleichgesinnten und spielte, worauf man Lust hatte. Die Jam Session diente gleichermassen als Experimentierfeld wie als Ring, in dem es sich zu behaupten galt. Pianisten wie Willie "The Lion" Smith, Fats Waller und James P. Johnson lieferten sich in Clubs und bei privaten rent parties regelmässig musikalische Gefechte. Coleman Hawkins erlebte in den frühen Dreissigerjahren in Kansas City bei einer sagenumworbenen Jam Session ein erstes Mal, dass es einen Tenorsaxophonisten gab, der ihm gewachsen war: Lester Young (ihm, Young, wird die nächste Folge von gypsy goes jazz gewidmet, am 5. März um 22 Uhr).
Während des Zweiten Weltkrieges, als viele Big Bands im Niedergang begriffen waren, etablierte sich an der New Yorker 52nd Street eine lebendige Szene, in der vor allem kleine Formationen aktiv waren. Musiker wie Coleman Hawkins, Art Tatum, Billie Holiday, Ben Webster, Don Byas, Roy Eldridge und viele andere traten an der Street auf, Thelonious Monk widmete ihr sogar eine Komposition, das52nd Street Theme. Nach den regulären Gigs zogen die Musiker weiter in after hours joints und spielten bis in die frühen Morgenstunden. Im Clarke Monroe's Uptown House wurde 1943 ein junger Musiker aus Kansas City namens Charlie Parker engagiert. Im Minton's Playhouse traten regelmässig Charlie Christian, Thelonious Monk, Kenny Clarke und Dizzy Gillespie auf. Parker und Gillespie wurden zu den Leitfiguren der neuen Musik, die bald den Namen Bebop erhielt.
Die Jam Session war mit dem modernen Jazz längst nicht am Ende. Im New Yorker Village Gate etwa befruchteten sich Jazz und Musik aus Lateinamerika gegenseitig, Mitte der Sechziger entstand aus einer rehearsal band, die Montagabend (dem Abend, an dem die Musiker frei hatten) probte, die Big Band von Thad Jones und Mel Lewis - aus ein paar Jam Sessions. In den Siebzigern verschob sich das Geschehen in Lofts wie das Studio RivBea des Musikers Sam Rivers und in den Achtzigern wurden neue Stücke von John Zorn erstmals in öffentlichen Jam Sessions ausprobiert.
Die zweistündige Sendung zum Thema Jam Session konzentriert sich auf die Vierziger- und Fünfzigerjahre. Den Auftakt macht Benny Goodman mit seinem bahnbrechenden Konzert in der New Yorker Carnegie Hall im Januar 1938. Aber auch im Studio wurden Jam Sessions abgehalten und aufgenommen. Norman Granz, der Impresario und Kopf hinter Verve Records, begründete 1944 in Los Angeles die Konzertreihe Jazz at the Philharmonic, in der Musiker des alten wie des neuen Jazz Platz hatten, Schwarze wie Weisse gemeinsam auf der Bühne standen und im Saal nebeneinander sassen. Die inoffizielle Hymne von JATP, "How High the Moon", darf keinesfalls fehlen. Auch ein ungleich entspannteres Stück aus einer der Norman Granz Jam Sessions - der Studio-Version von JATP gewissermassen - wird erklingen.
Im Juni 1947 stieg ebenfalls in Los Angeles ein legendäres Konzert im Elks Auditorium. Mit dabei war Howard McGhee, der Anfang 1945 mit Coleman Hawkins' Band den Bebop an die Westküste brachte. Doch die Hauptattraktion waren die Tenorsaxophonisten Dexter Gordon und Wardell Gray, die sich eine wahrlich epische Schlacht lieferten. Ein paar Jahre später kreuzten Fats Navarro und Miles Davis im Studio mit Dizzy Gillespie die Klingen - Miles Davis erinnerte sich in seiner Autobiographie später: "Me and Fats decided to follow Dizzy's lead and play the shit he was playing instead of playing our own styles. It was so close to what Dizzy played he didn't know when he left off and when we started. Man, them trumpet licks was flying all over the place."
Doch Jam Session bedeutet nicht nur Hochdruck und Konkurrenz sondern auch Entspannung, freies Entfalten von neuen Ideen, Raum für Experimente. So wurde im Herbst 1940 eine Probe mit Benny Goodman, Charlie Christian, Count Basie und Lester Young festgehalten, in der Young eine Reihe von Phrasen spielt, die gleichzeitig von maximaler Gelassenheit und schier unfassbarer Innovationsfreude zeugen. Der Trompeter Roy Eldridge nahm hingegen, als Art Tatum nicht zu einer geplanten Session erschien, kurzerhand eine Reihe von Duos mit seinem Schlagzeuger auf. Ebenfalls im Studio kam es zu ungeplanten Begegnungen zwischen Ben Webster und Illinois Jacquet oder Johnny Hodges und Dizzy Gillespie.
Der Film The Sound of Jazz von 1957 fängt einiges davon in Bildern auf - und dokumentiert gleich mehrere lockerere Zusammenkünfte, etwa jene der beiden Klarinettisten Jimmy Giuffre und Pee Wee Russell, aber auch eine späte Reunion von Billie Holiday mit Lester Young. Label wie Prestige Records und Blue Note Records setzten in den Fünfzigerjahren auf unterschiedliche Weise das Erbe der Jam Session fort. Kam es bei Prestige oft zu etwas unstrukturierten Sessions, gewährte Alfred Lion von Blue Note seinen Musikern meist einen Probetag vor der Aufnahmesitzung. Stellvertretend für eine an Reichtum kaum zu überbietende Menge an Musik hören wir ein Stück des Organisten Jimmy Smith, der für Blue Note mehrere Jam Sessions im Plattenstudio veranstaltete.
Natürlich wird wieder einiges fehlen, was unbedingt auch noch hätte gespielt werden sollen. Natürlich steht das Tenorsaxophon mit Protagonisten wie Coleman Hawkins, Lester Young, Ben Webster, Dexter Gordon, Wardell Gray, Warne Marsh oder Ike Quebec auch dieses Mal wieder im Zentrum ... doch auch Johnny Hodges, Willie Smith und Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Roy Eldridge und Buck Clayton werden mehrmals zu hören sein - und nicht zuletzt taucht auch noch kurz eine Schlagzeugerin namens Peggy Lee auf.